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wie wärs noch mit ein bisschen Musik?

Diogenes - Cynismus at it's peak

"Ich lebe in einer Welt voll Goldfischen,"

sagte Mycroft Holmes in der 2014 erschienenen BBC-Serie "Sherlock" (Staffel 3 Folge 1: "Der leere Sarg"), zu seinem jüngeren Bruder. In der Film-Adaption bekommt der Charakter deutlich mehr "Screentime" als in der literarischen Vorlage von Arthur Conan Doyle. Trotz der Masse an Handlung, die in den 56 Kurzgeschichten und vier "Sherlock-Holmes-Romanen" thematisiert wird, tritt Mycroft Holmes als Nebencharakter nur insgesamt dreimal persönlich auf: in "Der griechische Dolmetscher", "Das letzte Problem" und "Die Bruce-Partington-Pläne". Erwähnung findet er hingegen öfter. Das liegt wohl daran, dass er als träge, gesetzt und nicht zuletzt einsiedlerisch charakterisiert wird.


Darum ist Mycroft Holmes auch der Mitgründer eines Herrenclubs, dem sogenannten "Diogenes-Club", der Sherlock zufolge "die ungeselligsten und clubunfähigsten Männer der Stadt" beherbergt. In diesem Club ist es nicht gestattet voneinander Notiz zu nehmen, geschweige denn zu reden, die einzige Ausnahme bildet der Besucherraum: also der wohl friedlichste Ort in ganz London für die Holmes-Brüder. Mir stellte sich aber immer aufdringlicher die Frage, wer oder was dieser oder dieses sogenannte "Diogenes" war.


Wer sich mit den griechischen Philosophen auseinander gesetzt hat oder den "Diogenes Verlag" kennt, wird schon einmal über den Namen gestolpert sein. Inspiration für den Clubnamen bot nämlich der griechische Philosoph Diogenes, auch bekannt als Diogenes ­von Sinope­ – und dessen Anekdoten sind eine wahre Schatzkiste. Diogenes war ein wichtiger Begründer des philosophischen Kynismus. Das Ziel der sogenannten Kyniker ist es, im größtmöglichen Einklang mit der Natur zu leben, auch wenn konventionelle Werte wie Macht, Reichtum und Ansehen dafür vernachlässigt werden, aber dazu später mehr.



Kynismus vs. Cynismus


Beide Worte haben denselben Ursprung, ihre heutige Bedeutung hat sich jedoch drastisch voneinander entfernt. Es gibt in der griechischen Mythologie eine Legende, in der Diomos, ein Geliebter von Herakles, letzterem ein Opfer darbot. Ein weißer Hund (griechisch κύων "kýōn", Genitiv κυνός "kynós") stahl jedoch die fleischliche Opfergabe. Diomos folgte dem Räuber und errichtete dort, wo der Hund die stibitze Beute fallen ließ, einen Altar, das "Heiligtum des Herakles Kynosarges" (altgriechisch Κυνόσαργες "Wo der Hund liegen blieb"). Später baute man ein Gymnasion an diesen Ort. Auch heute ist ein Athener Stadtteil nach diesem Gymnasion (Ja, richtig gesehen. Das ist kein Schreibfehler.) benannt. In eben dieser Einrichtung lehrte wiederum Antisthenes, ein Schüler des heute bekannteren Platon und Lehrer von Diogenes. Antisthenes war der Begründer des Zynismus. Wie schon erklärt sind die Grundwerte des Zynismus Bedürfnislosigkeit und die sich daraus ergebende Autarkie, sowie die Ablehnung sozialer Konventionen im Sinne der absoluten Authentizität.


Anfang des 20. Jahrhunderts etablierte sich der Begriff in Deutschland, wurde aber noch "Cynismus"geschrieben und vereinte beide Wortbedeutungen in sich. Später bildeten sich aufgrund der unterschiedlichen Möglichkeiten der Aussprache des "C" verschiedene Begriffe für beide Worte. Im Gegensatz zu Ironie oder Sarkasmus, mit dem der Zynismus oft verwechselt wird, bedeutet "zynisch" (sein) laut dem Duden „auf grausame, den Anstand beleidigende Weise spöttisch“ (sein).


Diogenes von Sinope war beides.



Die Suche nach einem Menschen


Da das 5. Jahrhundert vor Christus nun schon ein Weilchen her ist, und es über Diogenes wenig gesicherte Fakten gibt, ist es am einfachsten sich ein Bild über ihn zu verschaffen, indem man sich von seinen zahlreichen Anekdoten unterhalten lässt. In einer der bekanntesten Geschichten streift Diogenes am helllichten Tag durch Athen und leuchtet mit einer Laterne in die Gesichter der Menschen. Als er gefragt wurde, warum er das tue, antwortete er: "anthropon zeto". Was so viel bedeutet wie "ich suche einen Menschen". Aber nicht irgendeinen – wahr muss er sein, authentisch und folglich für Diogenes, gut. Diese Szene wurde, wie viele andere aus dem Leben des Philosophen, in der Kunst aufgegriffen.


Bild 1: "Diogenes mit der Laterne, auf dem Markt Menschen suchend", Jacob Jordans, um 1642, Öl auf Leinwand

Bild 2: "Diogenes mit Laterne", Lovis Corinth, 1892, Öl auf Holz

Bild 3: "Diogenes mit der Lampe auf der Suche nach einem ehrlichen Mann", vermutlich Johann H. W. Tischbein, ca. 1780er, Öl auf Holz



Norm = Fremdwort


Ein andermal soll er seine Schüssel weggeworfen haben, nachdem er gesehen hatte, wie Kinder aus ihren Händen tranken und ihren Linsenbrei aus einem ausgehöhlten Brot aßen – man könnte also auch sagen, Diogenes war einer der ersten sowie extremsten Minimalisten. Passend dazu hatte er keinen festen Wohnsitz, übernachtete aber teils in einem leeren Weinfass, was ihm den Beinamen "Diogenes im Fass" oder "Diogenes in der Tonne" einbrachte.


Zusätzlich versuchte er sich bestmöglich abzuhärten, sowohl physisch als auch psychisch. So soll er sich im Sommer in glühend heißem Sand gewälzt und im Winter verschneite Statuen umarmt haben. Um sich daran zu gewöhnen, mit unerfüllten Wünschen zu leben, bettelte er angeblich an Statuen oder Gräbern um Gaben.


Auch die sozialen Konventionen der Zeit zertrümmerte er eine nach der anderen. Beispielsweise war es damals unanständig in der Öffentlichkeit zu speisen, was Diogenes selbstverständlich keineswegs davon abhielt. Er ging sogar so weit, das Verbot von Kannibalismus als erlernte Gewohnheit darzustellen, nachdem er von anderen Völkern gehört hatte, bei denen es nicht unnatürlich war, Verstorbene zu verspeisen oder Kinder zu opfern und anschließend zu verzehren. Angeblich soll es im damaligen Persien normal gewesen sein, sexuelle Beziehungen in der Familie zu pflegen, was Diogenes dazu brachte, auch dieses "no-go" lediglich als gesellschaftliche Norm zu sehen, die der Natürlichkeit, und somit dem Glück im Weg steht.


Hier gibt es aber zwei Punkte zu beachten: erstens ist natürlich nicht bekannt, woher Diogenes diese Informationen seinerseits bezog. Immerhin könnte es sich bei beiden Behauptungen um Gerüchte handeln. Andererseits ist umstritten, ob mit derlei Gedanken auch Handlungsaufforderungen folgten oder ob sie lediglich als provokative Beispiele für eingeübte Gepflogenheiten, die sich zu Verboten entwickelten, standen.



Wer braucht schon Logik?


Ähnlich herausfordernde Denkanstöße lieferte er im Bereich der "Dialektik", eine heute mit "Logik" zu vergleichende Disziplin "... um Wissen zu erwerben oder zu überprüfen. Zunächst und zumeist wird dabei von einer Frage-Antwort-Situation ausgegangen.", wie Wikipedia erklärt. Einige dieser scherzhaft von Diogenes aufgestellten Schlussfolgerungen sind erhalten geblieben. Auf diese Art verhöhnte er die sture Logik, und setzte den gesunden Menschenverstand an ihre Stelle.


Zum Beispiel:


Alles gehört den Göttern.

Die Götter sind Freunde der Weisen.

Freunden ist alles gemeinsam.


Es folgt: Alles gehört den Weisen.



Platons Mensch


Auch andere Philosophen bewertet er zynisch. Plato, ein Zeitgenosse von Diogenes, wurde von den Athenern für seine Bemühungen um diverse Begriffsbestimmungen verehrt. Besonders die Definition eines Menschen als "federloses, zweifüßiges Tier" brachte ihm Beifall ein. Als Plato eines Tages wie gewohnt an einer Akademie unterrichtete, stürmte der „verrückt gewordene Sokrates“, wie Diogenes von Platon genannt wurde, mit einem gerupften Huhn herein und rief: "Das ist Platons Mensch!". Danach soll Platon seiner Definition angeblich den Zusatz "mit platten Nägeln" angehängt haben.



‘‘Geh mir aus der Sonne‘‘


Selbst Alexander der Große war an dem kuriosen alten Mann interessiert. Bei einem Besuch in Athen suchte er den Philosophen auf und stellte sich mit den Worten: "Ich bin Alexander der Große" vor. Daraufhin meine Diogenes angeblich unbeeindruckt: "Und ich bin Diogenes der Hund". Als Alexander die Genügsamkeit seines Gegenübers testen wollte und anbot, ihm jeden Wunsch zu erfüllen, soll Diogenes nur gefordert haben: "Geh mir bitte ein wenig aus der Sonne".


Kein Wunder, dass der Grieche so ungerührt von der hoheitlichen Präsenz war – auch die uneingeschränkte Gleichheit aller Menschen gehörte zu seinen Werten. Das beeindruckte den makedonischen König, der später in nur elf Jahren als größter Eroberer der Menschheit in die Geschichte eingehen sollte, ungemein. So äußerte er scherzhaft "Wenn ich nicht Alexander wär, so wär ich gern Diogenes". Schlagfertig wie immer antwortete dieser: "Wär ich nicht Diogenes, so wäre ich auch gern Diogenes". Diese Szene ist eine der meist dargestellten Anekdoten des Philosophen.


von links nach rechts:

Bild 1: "Alexander und Diogenes", Unbekannt, wahrscheinlich Bekanntenkreis von Jan Gerritsz. van Bronckhorst, 17. Jahrhundert

Bild 2: "Alexander und Diogenes", Jacques Gamelin, Öl auf Leinwand, 1763

Bild 3: "Alexander und Diogenes", Caspar de Crayer, Öl auf Leinwand, zwischen 1625 und 1630

Bild 4: "Alexander und Diogenes", Cornelis de Vos, Öl auf Leinwand, 17. Jahrhundert

Bild 5: "Alexander der Große und Diogenes", Giovanni Battista Tiepolo, Öl auf Leinwand, 1770er Bild 6: "Alexander der Große und Diogenes", Giovanni Paolo Pannini, Öl auf Leinwand, Anfang/Mitte 18. Jahrhundert


Der bekannte Philosoph war also ziemlich Anti-Autoritär, was sich auch in seinen politischen Gesinnungen widerspiegelte: er strebte den Kosmopolitismus an. Das Wort "Kosmopolitismus" setzt sich aus den Worten "Kosmos" und "Politik" zusammen und bedeutet, wonach es klingt – Weltbürgertum. Die gesamte Erde ist "ein Staat" und somit Heimat für jeden. Damit ist Kosmopolitismus das Gegenteil zum Imperialismus, den wir alle im Geschichtsunterricht kennen gelernt haben. Diogenes bezeichnete sich selbst als ersten Weltbürger (κοσμοπολίτης, kosmopolítēs).



Gestatten, ich bin ein Hund.


Der Beiname “Weltbürger“ war nicht der einzige, den Diogenes sich über die Zeit aneignete. Wie vorhin kurz erwähnt, wurde er ebenfalls von sich selbst und anderen als Hund bezeichnet. Dieser Name, den er mit stolz trug, geht auf eine Anekdote zurück, in der er ein Bankett angesehener athener Edelleute störte. Daraufhin bewarfen sie ihn mit Knochen und nannten ihn einen Hund. Als Antwort tat Diogenes, was Hunde hin und wieder tun – und pinkelte auf den Tisch. Der eigentlich als Beschimpfung gemeinte Hundevergleich gefiel Diogenes, da die Lebensweise eines „Straßenköters“ mit seiner Bedürfnislosigkeit dem Ideal des Philosophen sehr nahekam. Dass die Bezeichnung „Kyniker“ ebenfalls auf einen Hund zurückgeht, ist zwar lediglich ein Zufall, passt jedoch „wie Arsch auf Eimer“ zur Figur Diogenes.




Bild 1: Diogenes Statue in Sinop, Türkei, von Turan Baş, 2006

Bild 2: "Das Grab von Diogenes dem Zyniker", Zeichnung, vom holländischen Historiker Olmert Dapper, 1688

Bild 3: "Diogenes", Öl auf Leinwand, von Jean Leon Gérôme, 1860



Das Ende der Legende


In seinen späteren Tagen soll Diogenes von Piraten gefangen genommen und als Sklave verkauft worden sein. Als er bei einer Auktion gefragt wurde, welche Talente er besäße, antwortete er: "das, Menschen zu regieren". Außerdem forderte er, an einen gewissen Herren namens Xeniades verkauft zu werden. Dieser war, wie Alexander der Große zuvor, beeindruckt von der Selbstsicherheit, mit der Diogenes selbst als Sklave Anforderungen stellte und kam ihr nach.


Beide Männer reisten also nach Korinth, wo Diogenes der Auftrag erteilt wurde, die Söhne von Xeniades zu unterrichten. Mit der Zeit wurde Diogenes ein festes Mitglied der Familie und fristete sein Lebensende im Haushalt Xeniades'. Nur ist nicht geklärt, wer genau dieser Xeniades war, und ob die Geschichte überhaupt korrekt ist. Es gab zwar in der Tat einen Xeniades von Korinth, ebenfalls ein Philosoph, es wird jedoch spekuliert, ob in Korinth ein anderer, reicher Bürger gelebt haben könnte, welcher ebenfalls Xeniades genannt wurde.


Die Unsicherheit diesbezüglich kommt von verschiedenen, von Diogenes Laertios verfassten Berichten. Er war als Philosophiehistoriker tätig und verfasste in zehn Teilen die Biografien und Überzeugungen von Philosophen der Antike – unter anderem auch von Diogenes von Sinope. Auch der Tod von Letzterem wirft Fragen auf. Angeblich sei er 90 Jahre alt geworden, ein natürlicher Tod im Zuge der Altersschwäche wäre also naheliegend.


Die mutmaßlichen Todesursachen sind jedoch alles andere als schlicht. Er soll zu viel rohes Fleisch gegessen und einer Lebensmittelvergiftung erlegen oder durch einen Hundebiss lebensgefährlich verletzt worden sein. Man sagte ihm sogar nach, Suizid durch Luftanhalten begangen zu haben. Meiner Meinung nach alles sehr abwegige Gründe, allerdings ist es gewissermaßen verständlich leugnen zu wollen, dass eine so exzentrische Person wie Diogenes schlichtweg "zu alt" war. Für den Verstorbenen selbst ist ein unspektakulärer Tod wahrscheinlich dennoch die beste Option, immerhin stirbt man so in größtmöglichem Einklang mit der Natur – und das war alles, was Diogenes von Sinope letztendlich begehrte.



 

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